Sturmzeichen

Über den Kanarischen Inseln braute sich ein Gewitter zusammen.
Ein Sombrero aus Wolken saß über der Inselgruppe. Sein westlicher Rand reichte weit auf den Atlantik hinaus, um erst auf Höhe der Azoren in unschuldige Schönwetter-Wattebäusche zu zerfallen. Im Osten bissen durstige Küstenwüsten einen Halbmond aus der brodelnden Masse heraus; wenn der Regen fiel, dann nur auf dem Meer. Die Sahara würde wie üblich leer ausgehen.
Durch das Ganze zog sich der Terminator wie die Kante eines Theatervorhangs. Morgendämmerung in Las Palmas, regengedämpft.
Aber auch ein wolkenloser subtropischer Sonnenaufgang, dachte Miguelanxo, könnte diesem Anblick nicht das Wasser reichen - das Herausschälen der Erde aus der Haut ihrer nächtlichen Dunkelheit.
Er hing mit ausgebreiteten Armen und Beinen im leeren Raum. Auf der Visierplatte seines Helms spiegelte sich blau und sandfarben der Erdschein. Er hielt sich regungslos. Nur seine Augen wanderten zwischen dem Bogen der Antillen am rechten Rand seines Gesichtsfelds und der afrikanischen Küste links hin und her. Die vergangenen zehn Minuten hatte er dem Spiel der Schatten auf dem kanarischen Wolkenturm zugesehen, während die Sonnenaufgangslinie darüber hinwegglitt. Die Meeresfläche direkt unter ihm hatte er kaum beachtet, obwohl sie den einzigen Grund für sein Hiersein darstellte. Richtiger noch, den Grund für die Existenz des Behemoths aus Metall und Keramik in seinem Rücken. Das teuerste Instrument, das die Menschheit je in den Orbit gehoben hatte, befand sich mit ihm im gleichen Zustand rasenden Stillstehens auf einer Bahn über den offenen Atlantik und wartete auf seinen Einsatz.

An dieser Stelle, knapp über dem 20. nördlichen Breitengrad, ballten sich keine Gewitterwolken. Nur ein paar Cirren wölbten sich über der Wasserfläche, so hoch in der Atmosphäre, daß es Miguelanxo schien, als seien sie ihm näher als dem Planeten, der sie hervorgebracht hatte. Er wußte, daß es zwecklos war, nach dem Ausschau zu halten, was diesen Ort viel gefährlicher machte, als es die protzigen Hammerköpfe über den Kanaren je vermocht hätten. Die Sturmzelle war nur mit Computerunterstützung zu erkennen, und der trügerisch klare Himmel war ihr Markenzeichen.
Die Geburt eines Hurrikans kündigt sich nicht mit Bergen von Cumuli an. Der Luftstrudel, der sich zu einem Wirbelsturm auswachsen wird, entsteht auf offenem Meer und ist lange Zeit aus dem Orbit praktisch unsichtbar. Schnell genug treiben Wolken in sein wachsendes Einflußgebiet, und die typische verwirbelte Form wird erkennbar; doch zu diesem Zeitpunkt ist der Sturm schon mehrere Tage lang angeschwollen und dem Land oft schon sehr nahe. Der Zeitraum zur Sturmwarnung und -vorbereitung schrumpfte damit auf wenige Stunden.
Auf der Suche nach einem Frühwarnsystem hatte man bald festgestellt, daß auch die frühen Anfänge eines Hurrikans aufgespürt werden konnten. Die Idee bestand darin, nicht den Luftraum, sondern die Wasseroberfläche im Auge zu behalten. Unter dem anfänglichen Wirbel, der Sturmzelle, glättete sich das Meer; ein Computer konnte diese Kreisform im Wellenmuster aufspüren und als Babyzyklon identifizieren. Das erhöhte die Vorwarnzeit beträchtlich, aber immer noch litten die Küsten unter den Verwüstungen. Und so beschloß man letztendlich, zurückzuschlagen: die Idee des Gausslings wurde geboren.
In der guten Raumfahrttradition großspuriger Namensgebung war der „Tempest Prevention Orbital Accelerator" auf den Namen „Prospero" getauft worden (davon abgesehen war es ein Zufall, daß der Zusammenbau im Umlauf ausgerechnet um Miranda stattgefunden hatte). Diese Bezeichnung wurde jedoch nur in offiziellen Schriften verwendet. Ansonsten stand bei den meisten Leuten eher die Verbindung mit den Handfeuerwaffen vom Typ Gauss-Beschleuniger im Vordergrund, deren Aufnahme in die Kriegswaffen-Kontrollliste gerade heiß diskutiert wurde. Miguelanxo war kein Freund von Shakespeare, und „Prospero" hörte sich seiner Meinung nach sowieso an wie ein Tee gegen Nierenschwäche. Nicht gerade passend für ein Gerät, das globale Wetterphänomene vom Himmel schießen konnte.
Der Gaussling feuerte Meteore. Seine Form erinnerte an ein dickstieliges Likörglas. Dem kugeligen Mittelteil war nach hinten eine Batterie von Triebwerken angesetzt; am anderen Ende ragte die Schnauze des magnetischen Beschleunigers zweihundert Meter weit heraus - eine mattweiß glänzende, eng gewundene Spirale von dreißig Metern Durchmesser. Miguelanxo schwebte vor der Mündung, ausgebreitet wie eine Figurenstudie von Da Vinci, die letzten Minuten vor dem Abschuß genießend. Er konnte sich sicher sein, daß ihn kein Funkspruch aus seiner Träumerei reißen würde. Der Puls des aktiven Gausslings verwandelte unweigerlich alle elektronischen Geräte in seiner Umgebung in rauchenden Schrott; sämtliche Sendeanlagen waren deshalb schon abgeschaltet.
Er zählte die Inseln des Antillenbogens hinauf. Dort, das war seine Heimat, Guadeloupe. Die Sturmzelle drehte sich weiter nördlich, fast schon am Wendekreis des Krebses, und als Hurrikan würde sie wohl am ehesten Florida treffen; trotzdem hatte er, wie bei seinen vorherigen fünf Flügen, das Gefühl, speziell und ausschließlich seine Heimat zu schützen. In schwereloser Trägheit legte er eine Hand auf seine Brust, ungefähr dahin, wo er das Kruzifix unter dem Druckanzug trug, und schickte ein Gebet zu seiner Insel hinunter: Dein Sohn paßt auf dich auf...
„DIIING!"
Der eingebaute Kopfhörer piepste ihm ins Ohr. „Abwurf minus 300 Sekunden."
Das bedeutete, daß sie sich ihrem Ziel bis auf ein paar Dutzend Kilometer genähert hatten. Der Gaussling, zu niedrig für eine stationäre Unlaufbahn, würde die Sturmzelle mit hoher Geschwindigkeit überfliegen. Das Zeitfenster für den Abwurf betrug daher nur knappe vier Sekunden. Zu diesem Zeitpunkt sollte Miguelanxo in seiner winzigen Kontrollkabine über den Triebwerken sein, wo er nichts weiter zu tun hatte, als auf einen Monitor zu starren und zu hoffen, daß alles glattlief. Etwas anderes als ein vollständiger Abbruch des Anflugs wäre zu diesem Zeitpunkt beim Auftreten eines Fehlers sowieso nicht möglich, und was das für die Küsten dort unten bedeutete, darüber bestand kein Zweifel...
Die freundliche Altstimme des Computers summte ihm das Tröpfeln der Sekunden zu. Er seufzte zurück, zog den anderen Arm ein, zwang beide Beine aus der angenehmen Trägheit der letzten Viertelstunde, krümmte sich zusammen und angelte mit der Rechten hinter seinen Schulterblättern nach der Sicherheitsleine, die ihn mit dem Satelliten verband.
Seine Hand griff ins Leere.
Der Schock ließ ihn automatisch in ausgestreckte Stellung schnellen. Agoraphobie rollte wie eine Welle über ihn hinweg; das Gefühl, nicht verankert zu sein, das Freiflüge im All zu solch einer Tortur für die meisten Menschen machte. Aber in Sekundenschnelle kämpfte er seine Panik nieder. Wahrscheinlich hatte er einfach danebengelangt. Gegen die sanfte Rotation, die ihm sein unwillkürliches Zucken eingebracht hatte, rollte er sich wieder zusammen und tastete sorgfältig seinen Rücken ab.
Die Leine war definitiv nicht da.
In der Einsamkeit seines Helms stieß er ein leises Ächzen aus (der Computer antwortete mit einem zustimmenden „Minus 277!"). Mit hastigen Bewegungen der angewinkelten Arme versuchte er sich entlang seiner Längsachse in Drehung zu versetzen. Der Vektor mißlang etwas; zusammen mit dem vorherigen Impuls hatte er sich nach zwanzig akribisch artikulierten Sekunden um ungefähr 180 Grad gedreht, stand jetzt aber fast auf dem Kopf. Mit einiger Mühe stabilisierte er sich. Er starrte jetzt direkt in die Öffnung des Beschleunigers - eine Fliege vor der Gewehrmündung. Das Geschoß starrte unversöhnlich zurück.
Was der Gaussling bei seinen Einsätzen auf den Planeten feuerte, erinnerte tatsächlich an eine überdimensionale Revolverpatrone, mit einem Durchmesser von fast dreißig Metern. Die beschichtete Stahlhülse des riesigen Geschosses lief nach vorne spitz zu, um den Atmosphärendurchtritt zu erleichtern; das Innere bestand zum größten Teil aus einer vakuumzementierten Masse von Mondgestein rings um einen Kern von ausgelaugtem Uran. Beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche wäre von diesem mehrere tausend Tonnen schweren Kunstmeteoriten, von seiner elektromagnetischen Rampe auf vielfache Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt, zwar nur noch der Urankern übrig. Doch die Schockwelle dieses Einschlags genügte, um die Balance einer Sturmzelle zu zerstören und den beginnenden Wirbelsturm auseinanderzutreiben.
In einer Welt, die keine einzige Atomwaffe mehr besaß (oder diesen Eindruck zumindest überzeugend aufrecht zu erhalten verstand), stellte dieses Abwurfsystem vermutlich die größte zielgerichtete Kraft in Menschenhand dar; und Miguelanxo hatte sich bei Beginn seiner innigen Beschäftigung mit ihm schnell jeder Ehrfurcht entledigen müssen, um seine Arbeit durchführen zu können. Deshalb dauerte es endlose, plötzlich unbezahlbare Momente, bis er sich seiner Situation voll bewußt wurde - auch nachdem er die höhnischen Schleifen der Sicherheitsleine entdeckt hatte, unüberbrückbare drei Armeslängen auf den Satelliten zurückgekrümmt wie die Skulptur einer Kobra.

Ohne Reaktionsmasse geschwindigkeitslos im freien Raum: das war ein Szenario, das in jeder Null-G-Situation unbedingt vermieden werden mußte. Sogar, wenn man nicht in völliger Funkstille allein im Orbit kreiste. Sogar, wenn man sich dabei nicht im Weg einer kaum mehr zu begreifenden Gewalt befand. „Minus 210."
Miguelanxos Atem kam keuchend. Seine Hände zitterten, während er jeden Quadratzentimeter seiner Montur abtastete. Es mußte doch irgendein loses Teilchen geben, irgend etwas, daß er abtrennen und von sich schleudern konnte, um sich auf das Leinenende zuzubewegen! In der Kontrollkabine, überhaupt in jeder Art schwereloser Umgebung hatte er immer zumindest einen Schraubenschlüssel für solche Fälle an der Hüfte - aber doch nicht hier, wo er angeseilt gewesen, wo kein Arbeitsgerät für seine halbe Stunde der Träumerei eingeplant war! Der Druckanzug war schrecklich glatt; seine tastenden Finger fanden nichts. Gnadenlos hielt ihn die Stimme in seinem Helm über die Dauer seiner fruchtlosen Bemühungen auf dem Laufenden.
Bei „Minus 180 - drei Minuten bis zum Abwurf!" schrie er sie an. Bei Anbruch der letzten Hundert hing er wieder kreiselnd mit bewegungslosen Gliedern vor dem Auge des Gausslings und blickte leise schluchzend auf die Oberseite seines Handgelenks.
Unter einer Plastikhaube befand sich dort ein Druckknopf mit der Aufschrift „X / cancel" in roten Lettern. Auf die Grundlagen reduziert, war Miguelanxos einzige wirkliche Pflicht die, den Gebrauch dieser Taste unnötig zu machen: sie diente dazu, den Anflug abzubrechen. Im Gegensatz zu Raketenstarts, bei denen das dreimalige Aussetzen des Countdowns praktisch zum guten Ton gehörte und ein planmäßiges Abheben eher Anlaß gab zum Zweifel an der Sorgfältigkeit der Sicherheitsvorkehrungen, waren die Konsequenzen in diesem Fall allerdings enorm. Selbst bei vollem Einsatz seiner Triebwerke konnte der Satellit frühestens in zwei Wochen wieder diese Stelle des Globus überqueren. Und zu diesem Zeitpunkt würde er einen ausgewachsenen Hurrikan vorfinden, längst jeder Möglichkeit der Kontrolle entwachsen. Nichts könnte den Sturm dann mehr davon abhalten, über Küsten hereinzubrechen, die seit mehr als 30 Jahren unter dem Schild des Gausslings lagen - unbefestigte Häfen; langgestreckte Strandsiedlungen, deren Wände und Dächer für nichts Schlimmeres als ein tropisches Gewitter ausgelegt waren; die Sonnenfarmen, die fast ganz Hispaniola bedeckten, das riesige Altenheim, zu dem sich Südflorida in den letzten Dekaden entwickelt hatte... der Zerstörung geöffnet durch eine einzige Handbewegung.
Inmitten seiner Verzweiflung fühlte sich Miguelanxo nur milde überrascht davon, daß er die Möglichkeit nicht einmal ernsthaft in Betracht zog.
Unten, auf seinen Inseln, auf den Schiffen, die rings um einen sonnigen Fleck auf dem Atlantik den Schlag des Gausslings erwarteten, hätten ihm vermutlich wenige diese Entscheidung zugetraut. Die Wahl zwischen der Möglichkeit einer Katastrophe und der unabweisbaren, finalen Sicherheit der eigenen Auslöschung durch die Wucht eines fallenden Berges - wer hätte es ihm da verdenken können, wenn er alles tat, um sich zu retten? Aber vielleicht war es das, dachte er, was der Anblick der Erde aus dem All einem Menschen antat. Die Übertragung des Selbsterhaltungstriebs, der Eigenliebe auf etwas anderes - auf alle die, die in diesem Moment in seinem Schutz standen; auf eine Perlenkette aus lebendigem Grün, und auf die eine Perle, die er besonders liebte.
- Sein Vater und Großvater waren mit dem Kreuz in der Hand gestorben.
Und warum eigentlich nicht?, dachte er. („Minus 63...") Letztlich war es doch gleich, ob ihn die Kälte und Luftlosigkeit des Weltraums oder das Zerschmettern an der Spitze eines Meteoriten tötete. Nein, es war besser - ein letzter Akt der Selbstbestimmung. Schließlich hatte er dieses Kreuz gehabt, seit er zum ersten Mal so etwas wie Glauben empfunden hatte. Und er hatte es niemals abgelegt.
(„Minus 60 - eine Minute bis zum Abwurf. Ich hoffe, sie sind angeschnallt, Ledesma...")
Miguelanxo Ledesma lächelte durch die kleine Galaxie treibender Tränen in seinem Visier. Da war es wieder jemandem gelungen, mit der Aufnahme herumzuspielen. Lebt wohl, dachte er, und begann auf die Sekunden zu lauschen.
Bei 40 trieb wieder der Rand der Erde in sein Blickfeld.
Bei 27 lagen die Antillen unter ihm. Er konnte jede einzelne erkennen.
Bei 15 begann er die Verriegelung seines Helms zu öffnen.

- - -

Im Sonnenschein des späten Vormittags schien die Oberfläche des Atlantiks wie aus grüner Jade geschnitzt. Eine lange, flache Hochseedünung atmete in gleichmäßiger Ruhe von einem Horizont zum anderen; eine kräftige Brise überzog die Wogen mit einem Netz aus kleinen Windwellen und peitschte hin und wieder schimmernde Spritzer aus ihren Gipfeln, wenn zwei gegenläufige Wellenfronten zusammenliefen. Einige Federwolken hingen reglos hoch über dem Wasser.
Dann war in einem der Wolkenfetzen plötzlich ein Loch.
Durch die gestanzt wirkende Öffnung ragte einen Moment lang senkrecht etwas wie ein raffaelitischer Lichtfinger, begleitet von einem Eindruck verwischter Bewegung. Dann, als die Ränder des Lochs sich wie als Nachgedanke ruckartig nach innen zu rollen begannen, bäumte sich die Wasserfläche auf. Ein Bergmassiv aus grünem Wasser mit spiegelglatten Flanken schoß empor, als würde von irgendwo unter der Oberfläche ein Vulkan aus Flaschenglas nach oben gepreßt. Für den Bruchteil einer Sekunde wölbte sich eine perfekte Halbkugel aus glühendem Dunst über dem Rand; dann zerstob sie auf der Front der Schockwelle, die Kraterwände spritzten nach außen, und konzentrische Ringe von Brechern begannen nach allen Seiten vom Mittelpunkt des Einschlags auseinanderzurasen, aus dem sich nun eine wirbelnde Dampfsäule nach oben schraubte.
Das Sturmschiff „Galathea" hob sich mit elegantem Schwung auf seinen Luftkissen in die Höhe, als die erste der Wellenfronten vom Horizont unter ihm entlangdonnerte. Entzücktes Quietschen vom Beobachtungsdeck drang bis in den Kontrollraum herunter; der Kapitän hatte das Schiff gerade hoch genug angehoben, um den Kamm des Brechers gegen den Kiel klatschen und seine zahlenden Gäste in der Touristenlounge ordentlich durchschütteln zu lassen, was diese offensichtlich mit großem Jubel quittierten. Die Stimmung auf dem Deck darunter war wesentlich angespannter.
„Bloody HELL!!" bellte der befehlshabende Offizier einem Bildschirm entgegen, der das Bild einer Außenkamera vom Einschlagsort zeigte, und beugte sich über das Gerät, als ob er mit der Stirn die Scheibe zertrümmern wollte. Major Andrades war der Meinung, portugiesische Flüche seien für die meisten Situationen zu blumig, und nahm dann bevorzugt in amerikanischen Kraftausdrücken Zuflucht. „Bloody FUCKING HELL!!"
Die Technikerin neben ihm konnte ihn nur verdattert angaffen. Was hatte der Chef denn nun schon wieder? „Was - was - „ stotterte sie. Andrades fuhr herum wie eine Bulldogge.
„Na was! Sperren Sie mal Ihre Augen auf! Was meinen sie, ist das da draußen? Wirft da einer mit Kieselsteinchen?"
„Ähhm..." stammelte sie. Was sollte das? Der Einschlag war doch auf die Sekunde genau nach Plan erfolgt, und reichlich beeindruckend sah er auch aus.
„Das ist NICHTS!! Das da draußen sollte aussehen wie ein Dutzend Hiroshimas, und statt dessen kriegen wir einen verdammten LADYCRACKER! SERGEANT QUITO!"
„Jawohl, Sir", kam die Antwort vom wild auf sein Keyboard einhackenden Operator eines nahen Computers. „Einschlaggeschwindigkeit war definitiv zu niedrig, Sir! Wahrscheinlich wurden circa sechzig Prozent der veranschlagten Energie freigesetzt."
„Haben die da ein Segelflugzeug runtergeschossen oder was?" fuhr ihn sein Chef an.
„N-nein, Sir, ein so kleines Objekt in der Flugbahn hätte keinen meßbaren Einfluß, Sir! Jacksonville sagt, es muß am Gaussling liegen, die Spektraldaten von der Wurfmasse waren in Ordnung."
„Dann schalten Sie hoch, hopphopp!" röhrte Andrades. „Ich will Ledesma haben!"
Quito informierte ihn, daß die Sendeanlagen des Satelliten gerade erst wieder hochgefahren wurden, und obwohl der Major nun regelrecht schäumte, mußte er sich wohl oder übel drei Minuten gedulden, bis die Verbindung zustande kam. Diese Zeit reichte völlig aus, um ihm und allen anderen im Kontrollraum anhand der Bilder diverser Wettersatelliten die Wahrheit über die momentane Situation einzuprägen: Die Sturmzelle stand noch. Ihre Innenränder waren zerpflückt worden, aber schon war eine beginnende Rekonfigurierung zu erkennen. In ein paar Minuten würde der Wirbel wieder voll ausgebildet sein. Diesen Sturm hielt niemand mehr auf. Der erste Hurrikan seit 25? 30? Jahren, dachte Andrades dumpf (und reichlich egoistisch, was ihm durchaus klar war), und das in meiner Dienstzeit... Wenn er jetzt nur diesen Ledesma in den Fingern hätte!
„Der anwesende Techniker M. Ledesma ist noch nicht zu erreichen, Sir" meldete sich eingeschüchtert eine Funkerin. „Aber wir kriegen schon Videobilder von einer Außenkamera. Wollen Sie...?" Andrades drängte sich wortlos neben sie.
Die Kamera saß offensichtlich auf einem Ausleger vor den Triebwerken des Satelliten. Auf dem Bildschirm war in perspektivischer Verkürzung die Spirale der Magnetrampe zu sehen, die vom Betrachter weg direkt auf den Umriß von Zentralafrika zu zeigen schien. Da im Moment alle Augen im Kontrollraum auf den Monitor gerichtet waren, war Andrades nicht der Einzige, dem sofort der schmale Fleck einer verschmauchten Verfärbung nahe der Mündung auffiel.
„Zoomen Sie ran" krächzte er. Das Bild machte einen Sprung nach vorne; die Vergrößerung war etwas grobkörniger, aber da war etwas... Quito räusperte sich.
„Offenbar liegt da etwas über zwei Windungen der Induktionsspule, Sir. Wenn es schon vor dem Abwurf da war, könnte das zu einem Leistungsabfall bei der Beschleunigung geführt haben, aber - " - Andrades brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen. Eine Ader pochte auf seiner Stirn. Was WAR da los?
„Gehen Sie so nah wie möglich ran", befahl er der Funkerin. Sie nickte und bearbeitete ihre Tastatur. Auf dem Monitor erschien eine Ansammlung grober Pixel, in denen fast nichts zu erkennen war. Dann, mit einem Mal, sprang die Übertragung in hohe Auflösung.
Zwei Windungen des Beschleunigers schnitten horizontal durchs Bild. Zwischen ihnen, wie ein Brückenschlag, spannte sich ein längliches Objekt, ein Stäbchen aus Schlacke. Einige durchlöchert wirkende Stellen wiesen darauf hin, daß es sich hierbei vielleicht einmal um eine feine Kette gehandelt hatte; die einzelnen Glieder waren verschmolzen, erstarrte Metalltröpfchen standen wie Stalaktiten nach allen Seiten. Und am unteren Ende der Kette, scheinbar unversehrt und in den Umriß des Horns von Afrika eingepaßt wie in einen Reliquienschrein, hing ein ziseliertes Kruzifix.

Im Kontrollraum herrschte Stille. Niemand schien den Blick abwenden zu können.
Dann begannen in der Touristenlounge hörbar die Champagnerkorken zu knallen.

florian weller nov MM

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