Die siebte Reise zur Göttin

Spät im Jahr war es diesmal, daß der bronzene Herald erschien. Die Winde des Sommers waren warm gewesen, und arm an Regen; so schnitt ich Holz schon vor dem ersten Blattfall, denn danach erinnern sich die Wälder des entgangenen Regens und werden hart und störrisch.
Als der Herald das Tal heraufschritt, war mein Korb voll mit jungen Stecken, mein Rücken beladen mit feiner und dichter Rinde und rotem Bast. Doch ich zögerte nicht und ließ Korb und Last zwischen den Wurzeln zurück, auch die Klinge, um Teures ertauscht von den Steinmetzen auf der Hohen Schulter. So nahmen mir der Schlamm des Herbstes und die ersten Schneefälle im letzten Jahr meinen größten Wasserschlauch, und eine geschnitzte Kufe im Jahr davor. Doch ich zögerte nicht und ließ alles zurück, wie es sich geziemt, oh meine Schwester.

Der Herald durchmaß die Talsenke, und ich folgte ihm schweigend. Wie immer erfüllte mich Ehrfurcht ob seines sicheren Schritts; denn obgleich Du, meine Schwester, mir gedeutet hast, wie der Gang nur auf den Händen Losgelöstsein von der Schwere unseres täglichen Daseins heißt, regt sich doch Erstaunen in mir, wenn ich den Herald der Göttin schreiten sehe. Es ist aber ein Zeichen von Hingabe, und nicht unziemlich.
Der Weg von meinen Bäumen zu Echpet Nav, dem Schrein an der Schulter, ist leicht, seit ich den Bach umleitete. In einer kleinen Weile erreichten wir ihn. Nur kurz verharrte der Herald in Berührung des Schreins, dessen Bronze so sehr wie seine eigene ist. Als er sich nach kaum einer Stunde abgewandt hatte und stumm und fordernd an mir vorbei wieder ins Tal hinabschritt, legte ich die Schuhe ab und auch die Handpolster, wie man es tun muß zu Beginn der Pilgerschaft; unbekleidet und unbeschwert ging ich weg vom Schrein, und so war alles, wie es sein soll am Anfang des Weges, meine Schwester.

Die Sonne stand hoch, bis wir den Wald hinter uns gelassen hatten. Nun erinnerte ich mich wieder des leichten und stetigen Schritts der Pilgerschaft; das flinke Dahinziehen auf bloßen Händen und Füßen, den glänzenden Rücken des Heralds vor mir. Manches Mal überkam mich der Drang, wie ein wanderndes Kind spielerisch mit den Speeren Blumen zu köpfen oder im Takt zu klappern; doch ich behielt respektvolles Schweigen bei, meine Schwester, zu Ehren der Göttin.
Als der Himmel sich rot färbte, erreichten wir Su Iemisch Nav, den Schrein an der Furt. Der Herald ehrte ihn, bis die ersten Sterne erschienen. Du hast mir gesagt, meine Schwester, daß es in der Nacht statthaft sei, sich zu stärken, auch während der Herald am Schrein verharrt; dies, damit der Pilgernde nicht den Führer in der Dunkelheit aus den Augen verliere, oder die Schwäche des Hungers ihn aufhält. Zwar fühlte ich mich nicht hungrig, aber ich weiß, daß die diebischen Jäger am Kreuzweg meine Nahrung stehlen, wenn sie sie finden. Darum aß ich, was ich unter einem Felsen verborgen hatte. Es war noch nicht verdorben.
Wir durchquerten die Furt und erklommen die Halden der Niedrigen Schulter. In der Tiefe der Nacht, als Wolken die Sterne bedeckten, ließ der Herald Licht von seiner Stirn strahlen, wie ich gehofft hatte. Die Fürsorge der Göttin erfrischte mich und machte mir den Aufstieg leicht.
Noch vor Morgengrauen gelangten wir zum Kreuzweg. Von der Klippe, an der sich der Kreuzweg teilt, war eine Lawine abgegangen, doch Su Patem Nav, der Schrein am Kreuzweg, war unversehrt. Der Ort, an dem ich meinen Vorrat versteckt hatte, lag unter den Steinen begraben. Ich bin aber sicher, daß die ehrlosen Jäger schon vorher alles gestohlen haben. Zumindest hatte die Lawine ein Rinnsal aufgestaut, so daß ich meinen Durst stillen konnte.
Der Herald ehrte den Schrein, und kurz nach Sonnenaufgang zogen wir weiter.

Der Weg hinauf zu Alnpak Nav, dem Schrein am Feuer, ist steil und beschwerlich. Die scharfkantigen Steine schnitten in meine Hände, und meine Füße rutschten auf dem losen Geröll. Oft mußte ich mich mit den Speeren einstemmen, um nicht den Berg wieder hinabzukugeln. Der Herald glitt leicht und ohne Fehltritt dahin; mühelos bezwang er den Überhang, der die Niedrige Schulter auf zwei Fünfteln ihrer Höhe umschließt wie eine Borte. Sein Anblick bestärkte mich, und obgleich ich auf der Lippe des Überhangs den Halt verlor und fast gestürzt wäre, ließ ich den Abstand nie zu groß werden, meine Schwester.
Es war lange nach Mittag, bis ich den Widerschein des Feuerlochs auf den Felswänden vor mir erspähte. Ich ließ mich erschöpft jenseits der Scharte im Lochrand nieder, in der der Schrein in seinem Nest aus schwarzen Felsbrocken steht. Wie immer war die Ehrung Alnpak Navs die längste der Pilgerschaft. Die Wärme und der Dunst des Feuers wollten mich einschläfern, doch ich blieb wach. Während die Stunden zum Abend verstrichen, zitterte mehrfach die Erde.
Noch war die Sonne nicht untergegangen, als der Herald seine Ehrung beendete. So konnte ich erst jetzt meinen Hunger aus den unversehrten Vorräten stillen, und nur wenige Augenblicke lang, da seine Gestalt schnell zwischen den Felsen zu verschwinden drohte. Dennoch nahm ich nichts mit mir und verlor meinen Führer nicht aus den Augen, und erwarb Verdienst um die Göttin, meine Schwester.

Der Abstieg auf der jenseitigen Flanke der Schulter ist lang, aber leicht. Sobald der Wald begann, bedeckte ein Teppich aus weichen Nadeln den Boden, und das Gestrüpp der Windblumen, deren Dornen mich hoch am Berg vorsichtig auftreten ließen, verschwand. Die tiefe und schmale Schlucht, die genau eine Tagesreise nach Alnpak Nav unseren Weg kreuzte, fanden wir noch immer von dem toten Baum gequert. Er erschien mir zunehmend verwittert, und ich fürchte, in kommenden Wintern wird er fallen. Die Göttin wird aber sicherlich einen anderen Weg zu bereiten wissen. Auch werde ich diesen Gang, wenn es erlaubt ist, meine Schwester, nicht ewig machen müssen.
Nach vollen eineinhalb Tagen des Abstiegs lag das Ufer der See vor uns. Hungrig und geschwächt, nahm ich mit Unbehagen wahr, daß diese letzte Prüfung diesmal schwer ausfallen würde, so wie es schon vor vier Jahren geschah; denn das Wasser erfüllte die Bucht und war gerade erst im Auslaufen begriffen. Uan Iemisch Nav, der Schrein in den Fluten, schien mir fern und klein in der Mittagssonne, und das entfernte Ufer kaum zu erkennen.
Der Herald schritt in die Wellen, und ich folgte ihm. Als sein Kopf unter den Fluten verschwand, fühlte auch ich keinen Boden mehr unter mir, und da das Wasser grün und undurchsichtig war, schwamm ich auf den Schrein zu - nicht zu schnell, um dem Herald nicht zuvorzukommen. Das ausfließende Wasser wollte mich aufs Meer hinausziehen, und die Anstrengung war groß. Der Herald erreichte den Schrein lange vor mir. Zum Glück ist auch die Ehrung Uan Iemisch Navs eine lang andauernde; so blieb mir noch Zeit, an den gewaltigen Bronzepfeiler des Schreins geklammert meine Kräfte wieder zu gewinnen. Trotzdem meinte ich, nur wenige Atemzüge seien verstrichen, ehe der Herald wieder unter die Wellen sank und ich die zweite Hälfte der Bucht durchmessen mußte. Ich beeilte mich sehr, damit ich ihn am Ufer nicht verliere. So groß war meine Hast, daß wir fast gleichzeitig aus dem Wasser stiegen.
Doch berührte ich das Land keinesfalls vor ihm, und so war alles, wie es sich geziemt, meine Schwester.
Ich war sehr erschöpft, und meine Sicht war schlecht, so daß sich meine Speere mehrmals in den wirren Tangbetten verfingen, über die der Herald leicht hinwegschritt. Die letzte Stunde des Weges war mir eine größere Last als die gesamte Reise zuvor. Als der Tempel zwischen den Bäumen auftauchte, war ich gerade noch fähig, mein Wort des Dankes an den Herald zu sprechen, der sich natürlich nicht umwandte und würdevoll in den Tempel eintrat. Dann huldigte ich mit erhobenen Speeren für zehn Atemzüge dem Tempel, wie Du, meine Schwester, es mich gelehrt hast; dann begab ich mich matt zu dem Vorrat, den Du frisch und reichlich für mich bereitet hältst, aß und trank und fiel in tiefen Schlummer.
Am nächsten Morgen erwachte ich voller Hoffnung. Ich suchte Dich im Wald vor dem Tempel auf und berichtete vom Verlauf meiner Pilgerschaft; und Du stimmtest zu, daß sie gut und geziemend verlaufen sei. Du halfst mir, mich zu säubern, und ich schärfte und reinigte meine Speere mit einem Stein. Schließlich hießest Du mich Dir folgen, meine Schwester, Priesterin, Glückliche im Dienst der Göttin, Licht auf meinem Weg aus der Schwere des Lebens; und wir traten vor den Tempel.

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„6/II/228

[ Cherry, New Cherry - Staatlicher Gedenktag
[ Algonquin - Wahl des Jahresregenten
[ Heute vor 51 Jahren: Freies-Sansibar-Aktivisten färben
[ Madagaskar (Terra) pink ]

Eintrag:

Als ich heute nach dem Frühstück einen Blick auf die Lichtung warf, stand natürlich meine Süße wieder am Waldrand und schaute erwartungsvoll. Sie hält dabei die Hände immer so verschränkt, als würde sie sich melodramatisch ans Herz greifen. Ich rief ihr zu, und prompt marschierte sie zur Tür und machte mir Bambi-Augen. Natürlich würde ich sie auch füttern, wenn sie nicht so lieb gucken könnte - wir zwei sind inzwischen dicke Freundinnen, und ich fühle mich für sie verantwortlich. Aber tatsächlich wird sie mit den Jahren immer schöner; und jetzt, da es langsam kalt wird, beginnt sich das Winterfell zu zeigen, das macht sie noch ansehnlicher.
Während sie sich mit ihren langen, schlanken Fingern zierlich die Kekse in den Mund schob, streichelte ich den wolligen Zentauren-Rücken. Sie genießt das ebenso wie ich. Es ist unser morgendliches Ritual, und ich würde es nicht missen wollen.
Nachdem sie die Kekse verputzt hatte, drehte sie den Kopf und miaute zum Waldrand hinüber. Das gestreifte Männchen schaute zwischen zwei Stämmen hervor und kam dann vorsichtig auf uns zu. In dem Moment erinnerte ich mich daran, daß ich vor ein paar Tagen schon mit mir gewettet hatte, ob er auftauchen würde - nachdem ich letztes Jahr endlich mitbekommen habe, daß er offenbar immer im Schlepptau des Bipeds auftaucht, der die seismischen Sonden hinter der Bucht ausliest (verdammt, den muß ich ja heute auch noch runterladen...).
Im Gegensatz zu meiner Süßen sieht er immer etwas mitgenommen aus. Ich frage mich, warum er nicht hierbleibt und sich wie sie durchfuttert. Nach einem kurzen Höflichkeitsbesuch verschwindet er jedesmal wieder für ein Jahr. Vielleicht sind die Männchen einfach scheuer... obwohl ich das nicht verstehe, da sie statt der Hände an den Armen des Oberkörpers diese mächtigen, spitzen Lanzen tragen. Wie zum Ausgleich dafür sind die Zehen des vorderen Beinpaares gelenkig und flexibel, und nur die Hinterfüße sind verhornt (meine Süße besitzt dagegen zwei Paar zierlicher Hufe, auf denen sie einhertrippelt wie eine Ballerina). Die Zwei scheinen sich ganz gut zu verstehen, möglicherweise sind sie Partner...

(Ich wünschte, Salman wäre wieder hier! Das ist einfach nicht mein Gebiet als Geologin. Kommt nach Nevis, verpaßt allen Tieren um die Station mörderische Namen - meine Süße ist also Campicursor chiron #Nevis -, verschwindet dann in die Tropen und läuft in irgendwelchen Flachwasserbiotopen Amok. Der soll sich mal für ein paar Monate hierher bequemen und mich an die tropischen Strände lassen! Ein bißchen Sonne könnte ich auch gebrauchen...)

Der Gestreifte bekam selbstverständlich auch seine Kekse, die er äußerst würdevoll entgegennahm. Ich reichte sie ihm aber lieber auf Armeslänge hin, und ich käme auch nie auf den Gedanken, zu versuchen, ihn zu streicheln. Vielleicht erschrickt er dann, und dann wäre ich lieber nicht in Reichweite dieser langen Spieße!
Anschließend trollte er sich höflich, meine Süße folgte ihm, und ich ging den Bohrkern aus der Karsthöhle auswerten (nichts Umwerfendes).

Was zum Teufel ist eigentlich Madagaskar?"

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So war auch dies nicht meine letzte Reise; noch immer war ich nicht würdig.
Du weißt, meine Schwester, daß ich mir nichts sehnlicher wünsche, als den Augen der Göttin zu gefallen. Du weißt auch, daß mich nicht Mißgunst antreibt oder Neid auf Dich, der eine erhabene Stellung jenseits meiner Träume einzunehmen gestattet wurde. Ich kann nur hoffen, daß ich einmal durch nicht ermüdende Hingabe und die unfehlbare Einhaltung aller geziemenden Regeln der Pilgerschaft die Belohnung ihrer segnenden Berührung verdienen werde - daß ihre Hand mich einst neben Dich stellen wird. Unter Deiner Anleitung, meine Schwester, werde ich ein weiteres Jahr hoffen, und ein weiteres, und ein weiteres.

Ich durchschritt die Bucht, während das Wasser abgeflossen war. Ich verbrachte einige Tage auf der Flanke der Niedrigen Schulter, und grub nach den Wurzeln, die in der roten Erde mancher Felsspalten wachsen; und ich fing die kleinen Sammler-der-Blüten, die zwischen den Windblumen klettern, und trocknete sie in der Sonne. Von dieser Nahrung vergrub ich ein Drittel am Rande des Feuerlochs, ein Drittel verbarg ich in einem Riß in der Flanke der Klippe am Kreuzweg. Da das Wetter gut blieb und keine Schneewolken über die Berge heranzogen, verwendete ich einige Tage darauf, die niederträchtigen Jäger aufzufinden; ich gedachte sie mit Drohungen vom Diebstahl abzubringen. Sie hielten sich aber versteckt.
Das letzte Drittel des Vorrats legte ich an der Furt in einen hohlen Baumstumpf und verschloß die Öffnung mit Moos.
Holz, Borke, Bast und Klinge fand ich unversehrt im Wald.
So legte ich nur in aller Kürze die Geschehnisse meiner Pilgerschaft nieder, wie ich es all die Jahre getan habe; damit die Göttin und Du, meine Schwester, einst wissen werden, wie wahrhaftig meine Hingabe gewesen ist. Nun werde ich weiter Holz schneiden und daran gehen, meine Lager zu füllen.
Dem guten Wetter folgen meist starke Schneefälle. Ich fürchte, der Winter wird hart.

florian weller august MMI

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