Mittsommernacht

Der niedrige Himmel hing voller Monde.
Rotgoldene, weißgoldene, blaugoldene Kugeln und Würfel saßen in Trauben beieinander, himmelblaue und türkise Oktaeder dazwischen gesprenkelt. Einzelne große, mattsilbern schimmernde Bälle wirkten wie Fixsterne, um die sich Schwärme von winzigen gelben Himmelskörpern drängten. Ihre pilzhutartigen Ballons waren kaum größer als die Kerzenflammen, die sie umschlossen. Ein Dutzend scharlachroter Kegel strebte in einer Kette vom Boden hinauf wie ein Ankertau, das diese leuchtende Kolonie von Seewundern am Davonschwimmen hindern sollte. Hin und wieder stolperte eines der Kinder, die quietschend durch das vielfarbige Halbdunkel flitzten, über den Pflock, an dem die Kette festgemacht war, und fiel der Länge nach auf die Nase, während die Kegel wie in einer Windböe herumruckten. Bis jetzt hielt das Arrangement.
Keto war herrlich betrunken. Sie hatte den Abend mit einem kleinen Glas Goldwasser begonnen, um mit ihrem Verlobten auf sein Jagdglück anzustoßen - Annic sollte den Großteil der Nacht mit ihrem Gastgeber auf einem Hochsitz verbringen. Auf dessen Anraten hatte er noch ein Fläschchen eines früheren Jahrgangs eingesteckt. Nach einem Test mußte auch Keto ihn als sehr fruchtig bezeichnen.
Dann hatte sie zusammen mit den Kindern die Lampions entzündet und zusammen mit der Köchin darauf angestoßen, daß noch keines der fragilen Papiergebilde in Flammen aufgegangen war.
Zur Eröffnung des Festes sahen sie und Annic sich genötigt, auf ein halbes Dutzend Toasts zu antworten. Danach war der Ehrenwerte Horas voll Tatendrang mit Annic in seinen Forst verschwunden, um ihm die legendären Gehörne und die eminente Bejagbarkeit seiner Wildziegen vorzuführen. Keto schätzte, daß weder er noch noch ihr Verlobter momentan fähig waren, im Dunkeln mit einer Armbrust zu treffen, und fügte einen privaten Toast für die Ziegen hinzu.
Sie hatte dann mehrere Stunden damit zugebracht, von einem Gesprächspartner zum nächsten zu wandern, über dies und jenes zu schwatzen und mit jedem auf die Mittsommernacht anzustoßen. Fasziniert hatte sie beobachtet, wie die Gruppe von Lockenbäumen in der Mitte des Gartens langsam zu einer mystisch glühenden Erscheinung wurde, als die Kinder mehr und mehr Fluglampions hineinschleppten und unter den Zweigen freiließen. Um Mitternacht schließlich war die ganze Horde johlend in das Dickicht gestürzt, um ‘das Licht aus den Bäumen zu schütteln’. Keto hatte sich eine zufällige Flasche vom Buffet geschnappt und war ihnen gefolgt.

Sie wanderte zwischen den schlanken Stämmen umher und war voll der Bewunderung über das Zusammenspiel der Farbenpracht über ihr und des Goldwassers in ihr. Sie fühlte sich nicht wirklich berauscht; eher schienen ihre Sinne geschärft zu sein, und sie verspürte eine Art generelle Wohlgewogenheit ihrer Umgebung gegenüber. Sie hatte den Verdacht, daß ein ziemlich breites Grinsen auf ihrem Gesicht lag, aber das kümmerte sie nicht.
Vor ihr hatte sich eine Traube von Jungen um einen Lockenbaum geschart. Unter rhythmischem Geschrei beutelten sie den Stamm hin und her. Das Blätterdach wogte, und die leuchtenden Heißluftballons, die darin gefangen waren, tanzten mit. Schließlich zwängte sich eine lange gelbe Pyramide durch ein Loch im Gezweig und verschwand nach oben. Von draußen erschollen Beifallsrufe, als man sie in den Nachthimmel aufsteigen sah.
Keto nahm einen Schluck aus der Flasche, konnte den Inhalt zu ihrer Freude nicht identifizieren und beschloß, sich das Schauspiel ebenfalls von außen zu betrachten. Die Kinder wollten jetzt sowieso keine Erwachsenen zwischen den Bäumen dulden.
Ihre Laune wurde noch gesteigert, als sie am Rande des Dickichts auf den thunischen Botschafter traf, der sich offenbar unbeobachtet glaubte und gerade höflich vor einer der Katzen des Hauses den Hut zog. Sie prostete dem rundlichen, kaffeebraunen Mann aus den Schatten zu und entschied, Annic bei Gelegenheit zu fragen, ob er eine Katze grüßen würde. Ein guter Charaktertest, fand sie.
Sie schlenderte über den dunklen Rasen auf das Haus zu. Zu ihrer Rechten umwogten Licht und Gelächter den Pavillon, den der Ehrenwerte Horas speziell für solche Feste hatte errichten lassen. Das Haus selbst lag dunkel da. Nur auf der Terrasse warfen zwei blakende Fackeln ein schwaches Licht auf die Weltkarte, die neueste Anschaffung ihres Gastgebers.
Keto ließ sich auf den warmen Steinen der Terrasse nieder und lehnte sich an den schweren hölzernen Rahmen der mannshohen Karte. Sie betrachtete die Baumgruppe - ein seltsames Tiefseewesen in der Dunkelheit, das hin und wieder schillernde Blasen ausstieß, lauschte auf die Musik vom Pavillon und nippte an ihrer Flasche. Was immer man über den Inhalt sagen mochte, nüchterner schien er sie nicht zu machen. Sie lachte in sich hinein.

Von jenseits des Lichtkreises der Fackeln drang plötzlich das Geräusch laufender Füße zu ihr. Einen Augenblick später sprang ein Mädchen auf die Terrasse und lief auf die Karte zu. Sie rief über die Schulter nach hinten: „Schau...", dann bemerkte sie Keto und blieb sofort stehen. Hinter ihr spuckten die Schatten jetzt zwei kleine Jungen aus, fünf oder sechs Jahre alt, die am Rande des Lichts ebenfalls stehenblieben und stumm herüberschauten.
Die Überraschung des Mädchens währte nur kurz. Gleich trabte sie näher heran, offenbar bemüht, im schwachen Licht Keto’s Gesichtszüge auszumachen. Sie schien etwas älter als die Buben, vielleicht acht oder neun. Sie hatte eine spitze Nase, kurzes Haar, das bei dieser Beleuchtung fast dunkelblau wirkte, und auf ihrem Scheitel saß eine runde Stoffkappe, die anscheinend nur dadurch in Position gehalten wurde, daß einige Haarsträhnen rundherum in den Rand geflochten worden waren. Eine Armeslänge vor Keto blieb sie stehen und fragte: „Du bist Dame Keto, oder?"
Keto nickte würdevoll. Den Ehrentitel „Dame" hatte sie schon den ganzen Abend zu hören bekommen.
„Du bist die Frau von Herr Annic, und der Ehrenwerte Horas bringt im gerade das Schießen bei."
Keto nickte wieder. Das erstere stimmte fast, und Schießen konnte Horas (obwohl er nach allem, was sie gehört hatte, kein besonders guter Jäger war) vermutlich wirklich besser als Annic, der noch nie eine Armbrust in der Hand gehabt hatte.
„Jawohl", sagte sie. „Und mit wem habe ich die Ehre?"
Das Mädchen deutete schnell die ersten zwei Grad einer Verbeugung an. „Ich bin Rulith, das ist mein Bruder, er heißt Athin, und das ist Horas. Also, der kleine." Sie wies auf die beiden Buben, die immer noch am Rand der Terrasse herumdrucksten. Keto erkannte den Sohn ihres Gastgebers, einen scheuen Jungen, der den Großteil der Nacht mit verbissenem Eifer Lampions in das Gehölz geschleppt hatte. Der andere, Athin, hatte dieselbe spitze Nase wie seine Schwester.
Da die Formalitäten damit abgegolten waren, redete Rulith gleich weiter: „Ich wollte den beiden auf der Karte zeigen, wo der Seidenzungen-Basilisk herkommt. Kann ich?"
„Oh, ich habe nichts dagegen, Dame Rulith", versicherte Keto. Sie rutschte beiseite und machte dem Mädchen Platz, das die Anrede mit erfreut blitzenden Augen zur Kenntnis nahm.
Rulith trat bedächtig vor den Rahmen und legte würdevoll den Finger an die Lippen, Nachdenken signalisierend. Aus dem Hintergrund meldete sich quengelnd Athin. „Rulith, ich will Lichter schütteln, laß uns die Lichter schütteln gehn, alle anderen sind dabei..."
Seine Schwester unterbrach ihn in autoritärem Tonfall. „Du mußt was lernen, sonst bleibst du dumm. Also, der Basilisk kommt von... da!" Sie tippte mit dem Finger auf die Karte, deren Oberfläche in dem Halbdunkel kaum auszumachen war. Keto versuchte etwas zu erkennen, dann reckte sie sich nach einem der Fackelständer und zog ihn heran, so daß das flackernde Licht auf das Holz fiel.
Die Karte war eine teure und kunstvolle Angelegenheit. Der Ehrenwerte Horas hatte sich sehr stolz auf ihren Erwerb gezeigt. Er war ein reicher Mann und spekulierte auf einen niederen Adelstitel. Diese waren hierzulande zwar offen käuflich, aber der Aspirant benötigte doch die Fürsprache einiger einflußreicher Leute, damit sein Anliegen Beachtung fand. Ein Titel wurde nicht an jeden Neureichen vergeben; man mußte sich sowohl als gebildeter als auch als kunstsinniger Mensch ausweisen, um eine Chance zu haben. Die Karte, für die Horas ein kleines Vermögen hingelegt und die er anläßlich der Mittsommerfeier stolz präsentiert hatte, bediente beide Bereiche.
Sie stellte die gesamte bekannte Welt dar, und einen Großteil der unbekannten, so wie man sie sich dachte. Die beiden Kontinente im Norden und die Inselschwärme der Tropen waren in feinem Detail gezeichnet. Alle Küstenlinien waren nach den Messungen von Handelskapitänen wiedergegeben, die großes Interesse daran hatten, genaue Distanzen und Richtungen für ihre Flotten angeben zu können. Landesgrenzen schlängelten sich als feine rote Tuschelinien über die wohlbekannten Nordländer. Städtenamen fanden sich in größten Ansammlungen um den Mittelpunkt der Karte. Da Horas die Karte in Auftrag gegeben hatte, befand sich das Zentrum natürlich genau hier.
Je näher man den Rändern der lackierten Edelholzplatte kam, desto mehr konnte man beobachten, wie das Wissen um die Lage der Erdteile von Phantasie und Zeichenkunst abgelöst wurde. An der Ostküste von Angoulem, von wo aus Keto und Annic zu ihrer Reise aufgebrochen waren, herrschten schon vage gerundete Küstenlinien vor, die von gewaltigen Bären und Löwen abgeschritten wurden; die Inseln im fernen Osten und Westen zeigten sich zunehmend kreisförmig und beherbergten erste Drachen und Chimären; und tief im südlichen Meer schließlich lag eine rechteckige Landmasse, von Seeschlangen umlagert und besetzt von struppigen Monstern.
Alles das befand sich unter einer dicken Lackschicht. Diese machte zwar Änderungen der Karte unmöglich, schützte sie aber unter anderem vor rußigen Fingerabdrücken, wie Rulith gerade einen auf ihrer Oberfläche hinterlassen hatte. Keto kniff die Augen zusammen. Gar nicht so weit weg, diese Gegend - jenseits des Binnenmeerarms im Nordwesten, und eingezwängt zwischen hohen Gebirgszügen. Eine Hochebene offenbar, und mit einem Dutzend klar beschrifteter Städte. Das Gebiet selbst trug den Namen Tassille.

Rulith hatte ihren widerstrebenden Bruder gepackt und zur Karte gezerrt. Sie ließ den Finger über Tassille kreisen. „Da, siehst du, da kommt er her. Aus Tassille. Nicht von der Schlangeninsel oder so ein Unsinn. Merk dir das und rede nicht so dummes Zeug."
Athin streckte ihr wütend die Zunge heraus und versuchte, seinen Arm aus ihrem Griff zu winden.
Keto mußte über diese Erziehungsversuche grinsen. „Dame Rulith, was ist denn ein Seidenzungen-Basilisk?" fragte sie. „Davon habe ich noch nie gehört."
Das Mädchen ließ ihren Bruder los und deutete zum Pavillon hinüber. „Dort drüben steht er. Er trinkt Bier."
Keto betrachtete verwirrt die Versammlung lachender, redender oder tanzender Festgäste, die sich um das Gartenhaus und die Tische scharten. Sie sahen alle recht menschlich aus. „Was?" sagte sie.
Rulith deutete mit beiden Händen. „Dort drüben! Jetzt füllt er gerade seinen Humpen auf."
Vor dem Bierfaß sah Keto einen breitschultrigen Mann stehen, der sich konzentriert um das Auffüllen seines großen Bierkrugs zu kümmern schien. Er hatte hellblondes Haar, das ihm wie ein Helm um den Kopf lag, und einen prächtigen, sorgfältig gestutzten Vollbart. Seine Kleidung wirkte teuer und erinnerte Keto an die Uniform der Gewürzhändlergilde, die sie von ihrem Vater her kannte. Der Mann setzte jetzt geschickt eine Schaumhaube auf den Krug und wandte sich dann lachend wieder seinem Gesprächspartner zu.
Mit einem Stirnrunzeln wandte sich Keto wieder Rulith zu. „Warum nennst du ihn einen Basilisken?"
„Seidenzungen-Basilisk!" rief Athin. „Und der Ritter der Faust wird ihm die Arme ausreißen und den Kopf abschneiden und..." - „Schrei nicht so!" ermahnte ihn seine Schwester, aber es hörte sich eher reflexartig an. Ihr Blick sprach Bände. Offenbar hielt sie die Frage für idiotisch.
Keto warf einen kurzen Blick zum Pavillon hinüber. Der blonde Mann gestikulierte gerade im Gespräch mit der freien Hand herum, nahm dann einen Schluck aus seinem Bierkrug. Es sah nicht so aus, als würde ihm jemand den Kopf abschneiden.
Rulith zählte an den Fingern ab. „Er ist aus Tassille, er sieht genau so aus, wie er aussehen muß, heute ist Mittsommernacht, und -" - „...und er hat einen Vogel gesteinert heut’ mittag, ich hab’s gesehen!" rief Athin wieder dazwischen. „Er ging an der Mauer entlang, der Vogel saß drauf, er hat ihn angesehen, und der Vogel wurde zu Stein und ist zerbröckelt!"
Rulith sah ihn an und schniefte. „Es heißt versteinert, und außerdem hast du dir das eingebildet."
Ihr Bruder quietschte zornig los. „Du lügst! Ich hab’s gesehen! Du weißt, daß ich’s gesehen habe, du -" - „Athin!" kam von hinten der Ruf des kleinen Horas, der die ganze Zeit, nervös von einem Fuß auf den anderen steigend, die Baumgruppe im Auge behalten hatte. „Athin, schau, sie sind schon bei den großen! Schnell, komm!" Er sauste los, auf die Bäume zu, aus denen gerade unter Beifallsklatschen einer der großen weißen Ballons emporstieg, mit einer Schleppe aus Dutzenden von winzigen gelben Leuchtkugeln, die hinter ihm her perlten.
Athin begriff sofort den Ernst der Lage, gab das Duell mit seiner Schwester auf und rannte ebenfalls in die Dunkelheit davon.
Rulith sah ihm hochnäsig hinterher, zuckte dann mit den Schultern und ließ sich im Schneidersitz neben Keto nieder. In vertraulichem Tonfall sagte sie: „Natürlich stimmt das mit dem Vogel. Aber es tut ihm nicht gut, immer recht zu haben. Er wird zu eingebildet."

Keto nahm einen Schluck aus ihrer Flasche; das schien ihr im Moment die einzig mögliche Entgegnung zu sein. „Aber ich was ist denn nun ein Seidenzungen-Basilisk, Dame Rulith?" versuchte sie es dann noch einmal.
Rulith schaute sie abschätzend an. „Du hast die Geschichte wirklich noch nie gehört?"
„Wirklich", beteuerte Keto. „Du weißt, wir kommen von weit her." Und so betrunken, daß ich sie gehört und vergessen hätte, bin ich dann doch nicht, setzte sie für sich hinzu.
„Gut!" Rulith rückte erfreut ihre Kappe gerade. „Dann werde ich sie dir erzählen, Dame Keto. Also. In Tassille gab es früher Basilisken. Das sind Monster, die dich zu Stein erstarren lassen. Es gab viele verschiedene Basilisken, und sie hatten alle verschiedene Namen. Es gab Klauenbasilisken, die hatten große Krallen, und es gab Schlangenbasilisken, die waren giftig, und es gab Vogelbasilisken, und es gab Verführerbasilisken, bei denen haben sie mir nicht gesagt, was sie taten -" - Rulith warf einen fragenden Blick auf Keto, die sich auf die Zunge biß und den Kopf schüttelte - „- und es gab Basilisken die konnten reden wie Menschen, und deshalb hießen sie Zungenbasilisken. Es gab also sehr viele, und die Leute in Tassille hatten viel Ärger mit ihnen, und deshalb führten sie einen Krieg gegen sie. Sie erschlugen sie alle, und wo sie einen von den zwölf Anführerbasilisken erschlugen, da bauten sie eine Stadt. Die Städte sind alle noch da." Sie drehte sich nach der Karte um und wedelte in eine generelle Tassille-Richtung.
„Aber danach versteinerten immer noch hin und wieder Leute, und keiner wußte warum, weil doch keine Basilisken mehr da waren. Schließlich fanden sie heraus, daß es wohl noch einen gab, der sah genau so aus wie ein Mann, groß und mit hellem Haar und Bart, und er konnte sehr klug und schön reden, und deshalb vertrauten ihm alle; und wenn er dann ihr Vertrauen erschlichen hatte, fiel er hinterrücks über sie her und verwandelte sie in Stein. Den nannten sie den Seidenzungen-Basilisk.
Sie versuchten ihn zu fangen, aber er war zu schlau für sie. Da gab es aber in Thun, das ist -" - sie blickte zweifelnd über die Schulter auf die Karte - „- irgendwo im Süden, da gab es einen Ritter namens Ritter der Faust, weil er so stark war. Er hörte davon und reiste nach Tassille, und er suchte den Seidenzungen-Basilisken und fand ihn auch, in der Mittsommernacht, auf einem Hof, wo er schon alle Menschen in Stein verwandelt hatte; es waren nur noch die Tiere da. Um ihm gegen den Basilisken zu helfen, redete der Ritter mit den Tieren und bat sie, ihm ihre Urahnen zu schicken. Das taten sie auch, und sie warteten gemeinsam die ganze Nacht auf den Basilisken. Schließlich fand der Geist der Katzen-Urahnen den Basilisken mit seinen Augen im Dunkeln, der Geist der Hunde rief den thunischen Ritter mit seinem Gebell herbei, der Geist der Hähne blendete den Basilisken mit seinen Flügeln, so daß er den Ritter nicht versteinern konnte, und der Geist der Ziegen brachte ihn von hinten zu Fall. Und dann erschlug der Ritter der Faust den Seidenzungen-Basilisken und schnitt ihm den Kopf ab und -" - Rulith legte den Finger an die Lippen - „- heiratete glaube ich irgendjemanden. Egal. Auf jeden Fall wird das in dieser Nacht auch noch passieren. Hat dir die Geschichte gefallen, Dame Keto?"
Keto sah den blonden Mann am Pavillon mit einer Gruppe junger Frauen schäkern und lachend den Kopf zurückwerfen. Wie gut, daß der nichts von den Mordplänen weiß, die hier für ihn bereitgehalten werden, dachte sie. Im Glockenbaumdickicht quälte sich gerade die Rundung eines weiteren Riesenballons nach oben durchs Gezweig. Sie nickte.
„Sehr gut erzählt, Dame Rulith. Diese Geschichte ist tatsächlich noch nicht zu uns nach Angoulem vorgedrungen."
„Ha!" rief Rulith und sprang auf. „Angoulem, ich weiß, wo das ist. Es ist - hier!" Sie legte die Fingerspitze auf die Golfinsel, die von einem mehrköpfigen Drachen dominiert wurde.
„Leider nein", meinte Keto. Sie rülpste diskret. „Unser Land liegt viel weiter im Osten, aber es ist nicht so heiß. Hier." Sie tippte auf den raubtierhaltigen Teil der östlichen Küste.
Rulith betrachtete interessiert die versammelten Bären und Löwen. „Was macht ihr gegen die ganzen wilden Tiere?" wollte sie wissen.
Keto zuckte mit den Schultern. „Wir haben die Löwen gezähmt, und sie verteidigen uns gegen die Bären. Wir hoffen, daß sie sich irgendwann alle gegenseitig auffressen, dann haben wir Ruhe." Sie erhaschte einen Blick auf die aufgerissenen Augen des Mädchens und platzte mit Lachen heraus.
„Nein, ich habe bei uns noch keine Löwen gesehen, und die Bären sind sehr klein. Aber auf Karten, die bei uns hergestellt werden, sind dieselben Tiere bei euch zu sehen, und noch ganz andere Monster."
„Wirklich? Welche denn?" Monster schienen für Rulith von großem Interesse zu sein.
Keto rief sich die Karten vor Augen, die sie daheim gesehen hatte. „Nun, haufenweise Wale und Seeschlangen vor den Küsten, und Menschen mit riesigen Ohren, in die sie sich zum Schlafen einrollen können, und..."
Vom Pavillon erschollen wieder Rufe. Keto blickte auf und erwartete, den weißen Ballon endlich aufsteigen zu sehen. Statt dessen bemerkte sie erschreckt, daß vor den Bänken offenbar eine Prügelei im Gange war. Die Menschen wichen nach allen Seiten auseinander; dann stolperte die Gestalt des blonden Mannes rückwärts aus der Gruppe heraus, fiel über eine Bank und zu Boden. Er riß irgend etwas von seiner Brust los und schleuderte es von sich. Im selben Moment setzte ein weiterer Mann, den Keto nicht erkennen konnte, über die umgestürzte Bank, riß dabei noch den danebenstehenden Tisch um und landete auf dem am Boden Liegenden. Er packte mit einer Hand dessen Hals und begann mit der anderen, die einen Gegenstand zu halten schien, auf ihn einzuschlagen. Dann warfen sich andere Gäste von allen Seiten über die beiden und zogen sie auseinander. Keto konnte in dem Knäuel nichts mehr erkennen.
Rulith war aufgesprungen und hatte aufgeregt zu schreien begonnen. „Schneid ihm den Kopf ab, schneid ihm den Kopf ab!" Jetzt packte Keto sie um die Hüfte und zog sie herunter. „Sei still, du blutrünstige Göre!" zischte sie. Sie hielt sie fest und ignorierte ihre Versuche, sich herauszuwinden, bis sie sich beruhigt hatte. Dann starrten sie beide gebannt auf den wirr durcheinander redenden Haufen, der sich um den immer noch am Boden liegenden Bärtigen gebildet hatte.
Nach einiger Zeit löste sich ein Mann aus der Menge und kam über den dunklen Rasen auf sie zu. „Rulith?" hörten sie ihn rufen. „Ja!" schrie Rulith zurück. „Ich bin hier, mit Dame Keto!"
Keto ließ sie los.
Der Mann kam heran. Er hatte eine spitze Nase, eine beginnende Glatze und einen besorgten Gesichtsausdruck. „Danke, daß Ihr auf sie aufgepaßt habt", wandte er sich an Keto. „Ich hatte schon befürchtet, sie steckt irgendwo in dem Gewirr. Habt Ihr gesehen, was da gerade passiert ist? Der Edle Godarin aus Tassille, der uns dieses hervorragende Bier gespendet hat, ist zu Schaden gekommen. Erst springt ihm diese Katze ins Gesicht und verbeißt sich regelrecht in ihn, keiner weiß warum, und kaum liegt er am Boden, da stürzt sich der Botschafter aus Thun auf ihn, mit einem Messer. Mit einem Messer! Dabei hat sich der Mann die ganze Nacht lang in perfekter Freundlichkeit mit mir unterhalten! Wer weiß, was da für Privatfehden dahinterstecken. Ich hatte den Eindruck, er ist nicht ganz bei sich - glasiger Blick, könnte man sagen. Der bedauernswerte Godarin hat einige böse Schnitte am Hals abbekommen. Gut möglich, daß er es nicht übersteht."
Rulith’s Vater seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Der arme Horas, so ein Pech für sein schönes Fest. Die Kinder müssen jetzt auf jeden Fall hier weg. Rulith, bitte hol’ deinen Bruder aus dem Wald, und dann komm!"
Rulith nickte stumm, winkte Keto noch einmal zu und rannte zu den Bäumen hinüber. Keto hatte nicht den Eindruck, daß sie besonders erschüttert oder gar verängstigt war, am ehesten noch - befriedigt.
Keto hinterließ dem Vater einige höfliche Worte, leerte die Flasche, machte einen großen Bogen um die Menge am Pavillon und ging zu Bett.

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„Schatz?"
„...hmmm...?"
„Wollte dir nur sagen, daß wir zurück sind. Absolut erfolglos, nebenbei. Hatte auch nichts anderes erwartet. Was ist denn da draußen los?"
„...hmmm...das ist... sch-schwer zu erklären..."
„Dann erzähl’s mir morgen. Frustrierender als bei mir und Horas kann es kaum gewesen sein. Ich habe ja erst gar nicht abgedrückt, weil ich kaum was erkennen konnte, aber Horas hat ein paar Schüsse danebengesetzt, die für mich todsicher aussahen. Als ob die Ziegen alle Geister gewesen wären.
Na ja. Rück’ ein bißchen, dann krieg ich auch noch etwas Schlaf. Ist schließlich die kürzeste Nacht des Jahres."

florian weller april MMII

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