Éire

1: Nachts

Schau, was ich gefunden habe.
Zwischen den Zähnen, die das Ungeheuer Dir entgegenreckt, glänzt eine außergewöhnlich große Perle.
Du lugst über die Reling nach unten und betrachtest die mattglänzende kleine Kugel. Sie scheint aus demselben Material zu bestehen wie die gewaltigen Fänge, die sie halten. (Und sind Perlen nicht die Tränen der Meerjungfrauen? Ist diese die Träne einer Seeschlange?)
„Sie ist schön", sagst Du.
Sie ist die einzige ihrer Art, blinken die Zähne.
Über Dir klatscht leise das Segel an den Mast. Du spürst keinen Wind; es ist die Art von Brise, die nur vom Großsegel wahrgenommen wird, und seine Bewegungen erscheinen Dir wie ein nächtliches Selbstgespräch. Das Wasser zeigt keine Wellen. Jemand hat das Schiff auf einen Spiegel gesetzt, dann den Spiegel leicht gekippt, und jetzt gleitet es antriebslos dahin. Um den Schein zu wahren, treibt der Bug eine Krause von ungekämmter Wolle vor sich her, die im Sternenlicht als Schaum durchgehen mag.
Das Ungeheuer schlägt mit einer Flosse auf die Spiegeloberfläche, und Du bist überrascht, keine Scherben splittern zu sehen.
Sie war eine Insel, sagt die Bewegung.
Du betrachtest die Perle, während sie und der große Kopf in den Schatten der Bordwand und wieder hinaus tanzen. „Eine Insel?"
Éire. Die Insel der Harfen.
„Oh."
Du streichst über das salznarbige Holz der Reling.
„Seumas, unser Zimmermann, ist aus einer irischen Familie. Er ist sehr stolz darauf und kennt all diese seltsamen Lieder. Sie sind alle so, die vom ‘alten westlichen Land’. Ich habe nie etwas von einer Perle gehört."
Eine peitschendünne Schwanzspitze schnippt Tropfen aus dem Spiegel, weit draußen. Es ist dreihundert Jahre her. Ihr vergeßt.
„Du nicht?"
Ich nicht, sagt ein geschuppter Rückenbogen, während er sich durchs kalte Licht wölbt. Sie schmeckten alle nach Angst, die Grauen, als ich damals jagte. Einer der euren tat es, und doch vergeßt ihr.
Das Schiff seufzt ganz leicht unter Deinen Füßen; die Planken murmeln sich schläfrig zu. Der Geruch nach Teer und Salzwasser, der vom Deck aufsteigt, scheint fast sichtbar zu sein.
„In Bristol", sagst Du, „gibt es am Hafen ein Haus, dessen Firstbalken ein Mastbaum ist, mit Takelage. Man erzählt, es ist der Mast eines Schiffes, das damals von der Flutwelle an Land geworfen wurde und das alte Dach zerstörte. Das hätte ich gerne gesehen... aber es heißt, die Insel sei einfach untergegangen. Woher die Perle?"
Sie wurde eine Perle und sank, wiegt sich der Schlangenkopf. Ich spürte die Bewegung vom Meer her meinen See durchlaufen wie eine Springflut; und um das Woher weiß ich nicht.
Du lächelst. „Du bist der, der zwischen Urqhart und Drumnadrochit die Kaledonier erschreckt? Seemonster."
Ein mondhelles Auge betrachtet Dich. Sie sollten nicht erschrecken, sagen die winzigen, tanzenden Funken darin. Es gibt anderes in den Meeren. Wißt ihr, was unter den Bergen aus Eis lebt, die im Norden treiben? Ich weiche ihm aus; es ist nicht flink, denn es nimmt den Berg stets mit sich. Es folgt den großen Grauen, wenn es sie singen hört. Ihr habt begonnen, Schiffe zu segeln, die lärmen und rufen und das Wasser aufwühlen. Wenn sie groß genug sind, wird es auch euch folgen.
Du lachst leise. Eine Spante irgendwo in der Tiefe der Bordwand fällt mit vorsichtigem Knarzen ein und verstummt wieder.
„Auch jeder Seefahrer wird einfach ausweichen, wenn ein Eisberg auf ihn zusteuert. Aber solche großen Dampfschiffe wird es nie geben. Wer wollte denn eine solche Nacht gegen Lärm und Dampf eintauschen..."
Ein Flossenschlag schlenkert winzige Wellen über den Spiegel.
Was tust du hier? Von allen anderen, die mit dir sind, höre ich schlafenden Atem.
„Ich wollte das Meeresleuchten sehen." Du betrachtest die glänzenden Schuppen, die glänzende Perle. „Oder einen Mondfisch. Oder etwas wie dich. Es ist solch eine Nacht."
Das Meer leuchtet, blinkt ein Auge.
„Das stimmt... und du, was tust du außerhalb deines Sees?"
Ich jage. Vor uns in der Tiefe ist ein kleiner Langrücken; er döst, und ich bin hungrig. Hier.
Die Perle klappert neben Dir auf das Deck. Du hebst sie auf. Als Du wieder über die Reling blickst, überschneiden sich nur zerrinnende Kreise auf dem Wasser, und das Ungeheuer ist fort.

Du drehst die Perle in Deinen Händen. Dies ist Irland?
Deine Finger ertasten auf der halb durchsichtigen Oberfläche unmerkliche Grübchen und winzige Knoten. Eine Seite trägt einen kreisrunden Fleck, schwarz im Sternenlicht. Es ist eine große Perle, aber doch nur eine Perle. Du wiegst sie lange auf dem Handteller. Ist dies die große grüne Insel, die vor dreihundert Jahren einfach verschwand? ...angeblich in der Mitte der Nacht, von einem Moment zum anderen; wenige Wochen, nachdem der damalige König von der Heiligen Römischen Kirche abgefallen war, um eine zweite Ehefrau nehmen zu können. Hatte man das damals nicht als Strafe Gottes bezeichnet und den König enthauptet?
Du weißt es nicht. Geschichte ist nicht Deine Stärke. Aber Du hättest sie wohl gerne einmal gesehen, Éire, die Insel der Harfen...
Die Glätte neben dem schlafenden Schiff wölbt sich auf und entläßt den Schlangenhals: glattschuppige Kiefer, befriedigt schimmerndes Elfenbein. Du hast nichts von dem gehört, was in der Tiefe vorgefallen sein mag. Jetzt streckst Du die rechte Hand über das Wasser und läßt die Perle herausrollen. Unbewegt leuchtende Augen beobachten ihr Eintauchen.
Weshalb behältst du sie nicht?
Du zuckst mit den Schultern. Ganz sicher bist Du Dir auch nicht. Vielleicht -
„Damit du sie dem Nächsten zeigen kannst, der eigentlich nur das Meeresleuchten sehen wollte."
Weit draußen fliegen Tropfen aus dem Spiegel. (Doch nichts splittert.)
Nun, das Meer leuchtet....
„Ja."

florian weller feb MMII

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Éire

2: Per Kurier

Man lege sich nicht mit Magiern an. Weder mit den wirklich Zauberkundigen, denn der Ausdruck ihres Mißfallens kann fatale Folgen haben; noch mit denen, deren Fähigkeiten eher von zweifelhaftem Ausmaß sind. Sie besitzen doch zumindest Mittel und Wege, einen Gegner zu vergiften, oder ihm vielleicht einen minderen Fluch anzuhängen von der Art, die wie eine kleine Regenwolke privaten Unglücks über einer Person schwebt und ihr das Leben vergällt.

Sir Robert Gunner gedachte sich jedoch nicht von der Art des Mißgeschicks, das ihn getroffen hatte, in die Irre führen zu lassen. Er war in delikater Mission für seinen König unterwegs; und Heinrich VIII. gab sich nicht mit kleinen Fischen ab, wie seine aktuelle Fehde mit dem Pontifex in Rom eindrucksvoll bestätigte. Nein, bei dem walisischen „Hexer" handelte es sich um einen bona fide Nekromanten und satanischen Schwarzkünstler ersten Ranges, daran war nicht zu zweifeln. Und der Umstand, daß Sir Robert nun von einem ordinären (obgleich heftigen) Anfall von Ruhr hier in Plymouth festgehalten wurde, war seiner Meinung nach eher auf den Verfall der städtischen Abwasserentsorgung zurückzuführen als auf übernatürliche Einwirkungen.

Darüber mag man streiten. Tatsache ist, daß die feine Aura bösartiger Intentionen, die dem Gesandten seit seinem Zusammentreffen mit dem Hexer gefolgt war, eher an dem Brief interessiert war, in dem dieser seine drängendsten Warnungen an den König niedergelegt hatte. Gemäß dem Leitsatz, mit dem geringsten Aufwand ein maximales Ergebnis erzielen zu wollen, mag aber auch eine sanfte Ermunterung von Sir Robert’s Darmflora stattgefunden haben. So oder so wurde der Brief an seinen jungen Begleiter, Percival Ludlum, übergeben zwecks schnellstmöglichen Transports nach London.

Percival verstaute den Brief mit mehreren anderen in seiner Satteltasche. Infolge der Eile seiner Reisevorbereitungen erbrach er dabei jedoch das Siegel - um die Fingerfertigkeit der Ludlums war es nie sehr gut bestellt, wenn sie auch alle großartig mit Pferden umgehen konnten. Nun war es Percival weder angenehm, den gequälten Sir Robert um nochmaliges Verschließen anzugehen, noch den Brief mit erbrochenem Siegel abzuliefern. So entfernte er kurzerhand den Umschlag und beschloß, den losen Zustand der drei Blätter mit ihrer überstürzten Ausfertigung zu erklären. Das Wölkchen von Bösartigkeit, so mag man sich vorstellen, ließ sich nun auf den Bögen nieder und begann zu arbeiten.
Seine erste Handlung bestand im vorsichtigen Entfalten einer Ecke der Tuchs, in das ein reifer und saftiger Orkney-Käse gewickelt worden war, der nun in der rüttelnden Satteltasche neben den Briefen ruhte. Auf der ersten Etappe des Ritts wurde so ein Großteil der ersten Seite mit Käse bedeckt, wenn auch dadurch nichts Wichtigeres verlorenging als die an den König gerichteten Grußformeln und Einführungsfloskeln.
Eine einschneidendere Folge zeigte sich in dieser Nacht, die Percival in Ermangelung eines Gasthauses unter freiem Himmel verbringen mußte, hingelagert zwischen die Wurzeln einer Dartmoor-Eiche. Eine Ratte, wohnhaft unter diesen Wurzeln, verspürte gegen Mitternacht ein unerklärliches Bedürfnis, in die Satteltasche einzudringen. Dort fand sie Einiges an Käse vor. Im Laufe der Nacht verzehrte sie nicht nur den verunreinigten Teil des Briefs, sondern auch den auf die Begrüßung folgenden Abschnitt: Sir Roberts Schilderung der Person des Hexers, und die Wiedergabe von dessen Forderungen, die auf nichts Geringeres als eine Aufgabe der kontroversen Heiratspläne Seiner Majestät hinausliefen. Die ersten Gerüchte dieses Verlangens hatten in London zur Aussendung des Kuriers geführt; die Ratte verspeiste sie bedenkenlos, und daß jede einzelne ihrer Nachkommen von da an zwei Schwänze und hellblaue Augen besitzen sollte, kann oder kann nicht damit zusammenhängen.

In der nächsten Nacht hatte Percival mehr Glück, denn er konnte sich in ein gemütliches Zimmer in einer Herberge bei Exeter einmieten. Für den Brief bedeutete dies jedoch Unheil, denn er blieb mitsamt der Tasche im Pferdestall zurück. Die nächtliche Abgeschiedenheit und Wärme des Stalls wurde von den Pferdejungen William Gadling, 14, und seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Jonathan für eine ruhige Stunde des Pfeiferauchens und ein Gespräch unter Männern genutzt. Im Laufe der Diskussion verstreute William unachtsam etwas Glut aus seiner Pfeife auf dem strohbedeckten Boden. Das entstehende Feuer erstickten die erschreckten Brüdern im Keim, und zwar unter Zuhilfenahme des nächstbesten Gegenstandes, einer Satteltasche. Dabei gelang es der hellwachen Aura übler Absichten, den Rest der ersten Seite aus der Tasche und in ein flackerndes Strohbüschel zu katapultieren. So verglomm die Beschreibung der Drohungen des Magiers: seine Versicherung, bei Nichtabstandnahme von der gottlosen Heirat mit der Boleyn dem Königreich gewaltigen Schaden zuzufügen - durch die unbedeutende Handlung der völligen und restlosen Vernichtung Irlands. Es ist nicht bekannt, ob die Flammen die erwartete grüne Färbung annahmen.

Der nächste Morgen sah Percival im spätsommerlichen Sonnenschein weiter nach Osten galoppieren. In seiner angesengten Satteltasche herrschte Waffenstillstand; die Aura brachte während der nächsten vier Tage nichts zuwege außer dem letztlich ergebnislosen Weiten eines Risses im Taschenboden. Das änderte sich, als der Bote auf der Höhe von Salisbury die Silhouette eines uralten Steinkreises passierte. In diesen Minuten, so kann man es sich denken, schwollen die immateriellen Muskeln des Übels zu gewaltigen Dimensionen, und es begann, die zweite Seite des Briefs einfach aufzulösen. Unbemerkt vom Reiter verflüchtigte sich so der dramatische Bericht davon, wie Sir Robert von dem Hexer einen Beweis seiner Fähigkeiten verlangt hatte: wie dieser lächelnd eine handelsübliche, wenn auch große, Perle vorgewiesen, Sir Roberts Aufmerksamkeit auf einen stattlichen Baum im Hof gelenkt, die Perle in ein glimmendes Kohlebecken geworfen und zu murmeln begonnen hatte; wie schließlich, auf ein Klatschen seiner Hände, der Baum mit einem ohrenbetäubenden Schlag verschwunden und durch die Perle ersetzt worden sei.
Ebenfalls zu Staub zerfiel der Teil des Briefs, der für den Gesandten besonders schmerzlich zu schreiben gewesen war. Denn hierin mußte er erklären, wie er in der Hitze des Augenblicks seine ausdrücklichen Weisungen mißachtet hatte, die Sache diplomatisch anzugehen, und sich mit dem Schwert in der Hand auf den Magier gestürzt hatte. Es war ihm übel bekommen, denn auf unerklärliche Weise fand er sich beinahe augenblicklich gelähmt. Und schlimmer, bevor ihn der Nekromant in die Bewußtlosigkeit versetzte, wurde ihm noch mitgeteilt, daß dieser Angriff als Ablehnung der berechtigten Forderungen gewertet werde; und daß, in Anbetracht der Heimtücke des Überfalls, weder dem König noch den Einwohnern der Insel rechtzeitige Warnung zuteil werden solle. Sir Roberts Versuch, dieses Dekret zu umgehen, war am Abend dieses Tages zu zwei Dritteln verschwunden, und die Zersetzung begann auf die letzte Seite des Briefs überzugreifen.

Bei Einbruch der Dunkelheit schließlich, als Percival nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau zu halten begann, nahte er sich einem glücklichen Zufall in Form einer Zollstation vor Winchester, von der gerade ein Eilbote nach London aufzubrechen sich anschickte. Erfreut machte Percival von dieser Gelegenheit Gebrauch, auch noch die Nacht für den Transport der ihm anvertrauten Briefe zu nutzen, und übergab sie dem Boten mit der Weisung, sie an die entsprechenden hohen Stellen weiterzuleiten. Man bedenke hierbei, daß die Ludlums aus Winchester stammen und Percival die gewonnene Zeit bestens für einige Verwandtenbesuche verwenden konnte; was der Beweggrund auch gewesen sein mag, die briefeverschlingende Bösartigkeit sah ihre Chance, versenkte ätherische Klauen in Bodenleder und Papier und hielt das dritte Blatt im dunklen Inneren der Tasche zurück, als die übrigen Schriftstücke herausgezogen wurden. Und während Percival einer alten Tante (eine halbe Stunde lang) und einer jungen Cousine (zwei Tage lang) seine Aufwartung machte, zersetzten sich still und leise Sir Roberts inständig formulierte Bitten, die Forderungen des walisischen Hexers ernstzunehmen und ihm zu Willen zu sein; denn ansonsten sei zweifellos mit dem Untergang der Insel Irland rechnen.
Binnen einer Nacht war von ihnen nur noch ein Häufchen Staub übrig, und die tückische Aura verflüchtigte sich und hinterließ im Weggang noch die Grundlagen einer Kartoffelkäfer-Plage auf den örtlichen Äckern.
Binnen zweier Wochen verschwand Irland und hinterließ, wie zu vermuten steht, eine Perle.

Man führe sich vor Augen, daß auch die rechtzeitige Ankunft des Briefes wahrscheinlich nichts an diesem Ausgang geändert hätte, außer der rechtzeitigen Rettung einiger königlicher Besitztümer. Es bleibt also dies zu betonen: man lege sich nicht mit Magiern an.

florian weller märz MMII

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