Dein

Du sitzt im Schneidersitz auf der Eckbank. Die Füße hast Du hochgezogen, weil es in Bodennähe trotz der besten Anstrengungen des Ofens immer noch herzlich kalt ist. Das schwere kleine Ding glüht schon fast, aber Hüttenluft ist etwas Besonderes: sie legt sich in Schichten wie ein Baumkuchen. In Kopfhöhe herrscht schon lange freundliche Wärme.
Neben Dir sitzt der Praktische, seines Zeichens temperatur-unempfindlich. Er läuft grundsätzlich bis tief in den Herbst in kurzen Hosen herum und läßt jetzt seine Beine unbekümmert in die Arktis baumeln. Die Glückliche, an der Schmalseite des Tisches, sitzt im Halblotus, zu dem Du Dich nach der Plackerei des Aufstiegs noch nicht in der Lage fühlst; ihr seid alle etwas angeschlagen. Dir gegenüber hat der Gefundene gar keine andere Wahl, als regulär auf seinem Platz zu verharren, weil die Resolute sich quer über den Rest der Bank ausgestreckt und den Kopf in seinen Schoß gelegt hat. So wird sie zwar hinter dem Ohr gekrault, kann aber als Einzige ihre Tasse nicht halten. Du nippst an Deiner heißen Bowle und bist ganz zufrieden mit Dir und der Welt im Allgemeinen.

(...Ich hetze die Berghänge hinunter...)

Die Glückliche nimmt einen langen Schluck aus ihrer Tasse und schüttelt die Locken. „Die ist aber ganz schön stark geraten!" sagt sie. „Viel kann von dem Rum nicht verbrannt sein."
„Zumindest nicht auf dem Zuckerhut", kichert die Resolute von unten.
Ihr habt beim Entzünden der Feuerzangenbowle vor ein paar Minuten die ganze Tischplatte in Brand gesetzt, weil die Glückliche mit dem Verschluß der Rumflasche gekleckert hat.
„Vorhin fandest du das aber nicht so lustig - von wegen, ‘Ihr fackelt mir noch die ganze Hütte ab!’", bemerkt der Gefundene. Doch die Resolute hat sich ihren Moment der Besorgnis um das feurige Ende ihrer Pachthütte schon wieder verziehen.
„Jetzt habe ich das Zeug aber intus und kann’s lustig finden. Weiterkraulen!"
„Das ist wenigstens ein effektiver Schlaftrunk. Ich warne euch, ich werde schnarchen", verkündet der Praktische. Du teilst ihm mit, daß er in diesem Falle einen Hausschuh aufs Haupt bekäme, denn sein Schnarchen sei schlicht markerschütternd und verursache Alpträume. Diese Beschuldigung glaubst Du Dir auch in dieser Runde leisten zu können, obwohl Du weißt, daß Du selbst hin und wieder ein bißchen im Schlaf redest. Angeblich.

(....unter meinen Pfoten stäubt der Schnee. Hager und schemenhaft stürze ich ins Tal, blinkende Zähne und grüne Lampen der Augen, dürre Klauen in flackernder, wissender Hast...)

„Hier oben in der Hütte hatte ich noch nie Alpträume", sagt die Resolute, richtet sich halb auf und trinkt einen Schluck. „Dafür daheim oft welche von der Hütte!"
Aha, denkst Du, jetzt wird’s interessant. Die späten Gespräche in diesem Raum haben schon bei anderen Gelegenheiten sehr persönliche Wendungen genommen. Daß es in diesem Hochtal im Winter schon um 16 Uhr dunkel wird und nur Kerzen zur Beleuchtung dienen, läßt euch beim Reden näher zusammenrücken, vertraulicher werden. Gestern hast Du mit dem Gefundenen heiß über christliche Ethik diskutiert, heute sind Träume dran. Es ist immer etwas Seelen-Striptease dabei.
„Wovon träumst du denn? Daß die Mäuse über Weihnachten mit dem ganzen Anbau abhauen?" fragt der Praktische.
Über das Gepruste der Glücklichen hinweg sagt die Resolute: „Nein, die ganz klassischen Geschichten - Bären, Wölfe, was Kindern halt Angst macht. Ich habe zum Beispiel oft geträumt, daß ich mit meinen Eltern hier von Wölfen belagert werde... sie springen ans Fenster, und du weißt ganz genau, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Scheibe bricht, oder bis sie irgendwo ein Loch finden."

(...Quecksilbergleich ströme ich von den Halden, die der Mond mit Willkür gesättigt hat, und sammle mich springend, bleckend, mit klappernden Krallen um die verkrümmten Enklaven des Tages...)

„Belagerungen - das kenne ich." Du ziehst die warme Tasse ein Stück näher an Deine Brust heran. „Vor den Fenstern huschende Schatten, das ganze Haus scheint plötzlich nur aus Eingängen zu bestehen, auf dem Dach ist natürlich auch schon irgendwas unterwegs, und plötzlich steht das Ding dann im Kamin. Puh."
Der Gefundene nutzt die kurzfristig aufrechte Haltung der Resoluten, um die Positionen umzukehren, und nimmt seine Tasse mit unter die Tischebene. Die Resolute rollt mit den Augen und stellt die ihre demonstrativ auf seinem Ohr ab. Er murmelt leicht gedämpft, „Bei mir waren es meistens Bären. Oder besser, formlose Gestalten, die sich wie Bären bewegten und, wenn sie einem nahekamen, auf einmal Krallen, oder Zähne, oder lange Arme hatten - wie es die Traumlogik gerade wollte."
„Ich finde es eher unheimlich, wie realistisch solche Träume sein können. Wenn es unwahrscheinlich oder unrealistisch wird, wache ich meistens auf. Zum Beispiel, wenn ich eine total seltsame Waffe in der Hand habe, mit der ich aber perfekt umgehen kann - jeder Schuß ein Treffer, nachladen gibt’s nicht - dann sage ich mir schnell: Irgendwas stimmt hier doch nicht, und bin wach." Jedem seine eigenen Inkongruenzen, denkst Du. Die Resolute ist schließlich im Schützenverein. „Aber in Träumen von der Hütte paßt alles zusammen, als wäre ich wirklich hier. Ich wache keuchend und mit Herzklopfen auf."
Die Glückliche schaut nachdenklich drein. „Ich hatte eigentlich noch nie vor Tieren Angst, nur vor Menschen. Tiere sind berechenbar. Aber die Menschen, die in meinen Alpträumen auftauchen, haben viele von euren Wolfmerkmalen - schnell, schlecht erkennbar, manchmal leuchtende Augen. Es gibt da offenbar ein paar typische grundlegende Eigenschaften, mit denen jeder seine eigenen Schrecken ausgestaltet."

(...ich scharre an Türstöcken, ich zucke von Wahrnehmung zu Ahnung auf der schreckhaften Druckwelle eines Wimpernschlags, verharre in lauernder Gier an den Grenzen der Gewißheit, bis ich erkannt bin; ich atme scharfzähnig in Momenten der Stille, raschle mit nächtlichem Fell an einsamen Scheiben...)

Der Praktische stimmt ihr zu. „Ja, Atavismen, Erinnerungen, die man mit sich herumträgt, obwohl man nie selber so etwas erlebt hat. Sie haben keinen Zusammenhang mehr mit unserem heutigen Leben, aber sie sind noch ein Teil von uns."
„Oder wir sind noch Teil von ihnen." Du weißt nicht, warum Du das gesagt hast - ein Klischee, wirklich - und die Bemerkung erhält die Mißachtung, die sie verdient. Aber ihr redet noch lange, bis weit nach Mitternacht, über eure Kindheitsträume und Kindheitsschrecken und stellt fest, daß ihr sie nicht vergessen habt.
Der Praktische fühlt sich ihnen inzwischen überlegen; die Resolute hat sie abgelegt, eingeordnet, und kennt sich in ihnen aus; der Gefundene hat sie mit anderen geteilt, vor allem mit ihr, deshalb hat er sich ja finden lassen; die Glückliche hat ihre Alpträume akzeptiert und in sich aufgenommen. Und Du? Du hast sie weggleiten, fremdwerden lassen. Aber nicht vergessen - keiner von euch hat das.

(...ich liege über zersplitterten, unbekannten Dingen in einer verborgenen Ecke und starre, nur Auge, nur Warten. Ich krieche aus lichtlosen Treppenschächten, mein Winseln trägt den Geschmack kahler Mauern und heißer Angst. Das nachtgewandelte Holz eines Schrankes gebiert mich, ich füge mich zusammen über dem pockigen Asphalt einer Gasse, unter Schindeln, im toten Winkel des Fensters...)

Später, bevor Du in Deinen Schlafsack kriechst, stehst Du noch in der Hüttentür und schaust in das Dunkel jenseits des kleinen Lichtkegels. Du blickst auf die schwach erkennbaren, schneebestäubten Wurzelbögen, die wie kleine schwarze Tore unter die Schneedecke aussehen,

(...ich koche empor aus der wimmernden Dunkelheit zwischen den Baumwurzeln...)

auf die starren Felsbrocken mit den gezackten Schatten an den Hängen,

(...ich sickere von der Oberfläche gleichgültiger Steine...)

auf die Dammlinie der Gipfel, kaltes Silber vor tiefem Schwarz;

(...ich heule hinauf zur schartigen Klinge der Nacht, Eis und Fels von Dunkelheit zu Dunkelheit bis an der Welt Ende...)

Du siehst einfach nur ins Dunkel vor Dir -

(...ich blicke mir selbst in die Augen, schon lange jenseits, aber jetzt fast ich, ich, ich...)

und auf einmal hast Du das Gefühl, daß Dir Deine Schrecken und Alpträume gar nicht fremd sind. Gefährlich vielleicht, und unverstanden, aber von Dir. Dein.

....und Schnee stäubt unter meinen Pfoten, frostharte Rinde um mich und die Nacht über mir...

Am nächsten Morgen sitzt ihr reichlich spät beim Frühstück. Draußen gleißt alles von frischem Pulverschnee, drinnen ist die Wärme über Nacht wieder restlos im Boden vesickert; der Ofen kaut wacker auf Kiefernscheiten herum. Die Glückliche säbelt gekonnt Scheiben vom Appenzeller und bemerkt dabei in Deine Richtung, „Du hast heute Nacht ja wieder Romane erzählt! Dreimal bin ich aufgewacht, und Du warst am Reden."
„Solange ich euch nicht meine Bankgeheimzahl mitgeteilt habe, ist ja alles in Butter", murmelst Du. Die Sache ist Dir etwas peinlich. Du weißt recht gut, wer momentan in Deinen Träumen vorkommt, und vielleicht sollte gerade die Glückliche nicht unbedingt alles hören, was Du im Schlaf so denkst.
„Unterwegs war er auch", fügt die Resolute unbarmherzig hinzu. „Als mir heut Nacht mein Kissen abgestürzt ist -" - „nachdem du es mir unterm Kopf weggezogen hast", gähnt der Gefundene und erhält einen Tritt -, „als dieser Typ also ungeschickterweise sein eigenes Kissen versenkt hat, habe ich gesehen, daß dein Schlafsack leer war. Ich finde es ja bewundernswert, daß du bei dieser Kälte nachts aufs Klo marschierst!"
„Er wird aufs Klo geschlafwandelt sein. War sicher dramatisch!" Der Praktische lacht, und minutenlang werden Szenarien entworfen, was alles passieren könnte, wenn sich jemand im Dunkeln, ohne Taschenlampe, der hauseigenen Mördergrube von einem Plumpsklo nähert.
Du schaust über Deine Schulter aus dem Fenster, ins Weiß. „Irgendwie bin ich froh, daß es heute Nacht noch geschneit hat", sagst Du leise zur Glücklichen.
Sie folgt Deinem Blick. „Ja", stimmt sie zu. „Hübsch, nicht? Wie eine frische Leinwand. Man sieht unsere Spuren von gestern gar nicht mehr."
Du nickst. Dann ziehst Du die Beine wieder auf die Bank hinauf. Du hast immer noch eiskalte Füße.

florian weller jan MMI

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